Lesen Sie hier die Rezension zu Bachs Johannespassion von B. Jürgens
Die Johannespassion in St. Michaelis
Von Birgit Jürgens (Hildesheimer Allgemeine Zeitung vom 10.03.2020)
Hildesheim. Das ist mal eine etwas andere Musik, als man sie sonst in Johann Sebastian Bachs Johannespassion hört: Im Antrittskonzert von Michaelis-Kirchenmusikdirektorin Angelika Rau-Culo am späten Sonntagnachmittag präsentierten die Kantorei St. Michael, die Kurrenden der Singschule Christuskirche, Vokalsolisten und die Hannoversche Hofkapelle die zweite und unbekanntere Fassung der Johannespassion aus dem Jahr 1725.
Bach tauscht hier den Eingangschor gegen die Choralfantasie „O Mensch, bewein dein Sünde groß“, ersetzt mehrere Arien, fügt neue Arien hinzu und nimmt als Schlusschoral „Christe, du Lamm Gottes“ ins Werk. Insgesamt rücken in dieser „Passio Secundum Johannem“ die Aspekte Schuld und Sünde stärker ins Passions-Zentrum.
Gewaltiger musikalischer Bogen um die Passionsmusik
Ein weicher Grundtenor gehört genauso zu dieser stimmigen Interpretation wie eine passgenaue Choraufstellung, die für eine optimale Farb- und Stimmmischung sorgt. Dass Angelika Rau-Culo, die seit Oktober 2019 die Kantorei St. Michael leitet, einen so gewaltigen theologisch-musikalischen Bogen um die Passionsmusik legt, beeindruckt tief.
Vor den 400 Konzertbesuchern breiten sich bereits im Eingangschoral die geschliffenen Tongebungen, die aus einem Grundklang entstehen, aus. Und dieser Bogen bleibt bis zu den letzten Stücken des Werks bestehen.
Der Kantorei steht die Hannoversche Hofkapelle mit filigranen Klängen zur Seite. Federnd leicht und flexibel schafft das Orchester unter Angelika Rau-Culos Dirigat mit den Sängern eine Welt aus zwei Klangkörpern. Selten darf man erleben, dass Musikvorstellungen so profiliert von Laien und Profis zusammengehen.
Überragender Tenor, glockenheller Sopran
Von den Solisten überragt der renommierte Tenor Tilman Lichdi (Evangelist und Arien). Die Stimme des Musikers trägt in allen Lagen und überzeugt selbst in hohen Noten bis ins Pianissimo. Aber auch kräftige Töne bindet der Sänger in ein großes Sprechgesangs-Legato ein. In der dramatisch gesetzten Arie „Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr Hügel“ (sie erscheint statt der Arie „Ach, mein Sinn“) geht der Tenor stimmstark, aber nie derb an Wort und Ton. Dieser Sänger schafft es, zu kommentieren, den theologischen und musikalischen Gehalt dem Publikum nahezubringen oder in Dialoge zu treten – besonders mit der gut geführten Stimme des Basses David Steffens (Jesus).
Die glockenhelle Stimme der Sopranistin Siri Karoline Thornhill lässt aufhorchen. Die Arie „Zerfließe, mein Herze“ gestaltet die Sängerin wie eine innige Klage, die bis zum letzten Ton des gesamten Werks nachhallt.
Der Countertenor David Allsopp und auch der Bariton Thomas Scharr können in ihren Arienpartien allerdings nur bedingt überzeugen, denn sie schaffen es besonders in Koloraturen nicht immer, mit ihren Stimmen im Kirchenraum voll anzukommen.
Doch das Gesamtergebnis trübt das kaum. Nach dem letzten Ton läuten die Kirchenglocken. Anschließend Stille. Und dann dürfen sich die Mitwirkenden, allen voran Angelika Rau-Culo minutenlanger Ovationen sicher sein. Ein großer Start für die Kirchenmusikdirektorin und ein voller Erfolg.