Immer wieder stockt dem Publikum in St. Michaelis der Atem bei der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach.
Von Claus-Ulrich Heinke
Die Matthäuspassion von Bach gehört zu den bedeutendsten Werken der Musikgeschichte. Eine Aufführung dieser Musik berührt die Menschen tief, – so auch am Sonntag bei der Aufführung des Oratoriums in der Michaeliskirche Hildesheim durch fünf Solistinnen und Solisten, die Mädchenkantorei am Hildesheimer Dom und die Kantorei St. Michael sowie das Ensemble Schirokko aus Hamburg.
Entlang der biblischen Erzählung des Matthäusevangeliums schuf Bach eine einzigartig kunstvoll gebaute, barocke musikalische Darstellung der Leidensgeschichte Jesu. Trauer, Angst, Hass, Verzweiflung, Hoffnung, Ruhe und Liebe – all diese Emotionen fließen vom Text her in die Musik und entfalten bei Ausführenden und Hörenden bewegende Wirkung. Immer wie- der gibt es Momente, bei denen der Atem stockt, weil Text und Musik zum Kommentar des eigenen Lebens werden. So zum Beispiel bei der Arie „Erbarme dich, mein Gott“, die unmittelbar auf die Erzählung der tränenreichen Reue des Petrus über seine Verleumdung Jesu folgt. Altistin Seda Amir Karayan und das Orchester (Solovioline!) ließen diese Arie zu einem der emotionsstarken Haltepunkte des Konzertes werden.
Ähnlich wirkten auch die zwölf Choräle, die Kirchenmusikdirektorin Angelika Rau-Culo als schlichte, schön klingende Meditationen des jeweils zuvor Geschehenen ge-staltete. Und im Wechsel von Verharren und Vorantreiben setzte sie dramaturgisch durchdachte Akzente. Wobei einige Arien tempomäßig gesehen ein wenig mehr Gelassenheit vertragen hätten. Insgesamt steuerte sie das groß besetzte En- semble sicher durch die weit angelegte Architektur dieses Werkes. Das erfahrene Hamburger Ensemble Schirokko war ihr dabei ein artikulationsreich spielender, zuverlässiger Partner.
Herausragend die Continuo- Gruppe. Klanglich phantasiereich folgte sie den unterschiedlichen Stimmungen der Rezitative, also der gesungenen Bibelerzählung. Durch den herausragenden Tenor Martin Platz als Evangelisten wurden diese Rezitative zum ergreifenden Erlebnis. Mit seiner in allen Lagen frei strömenden klaren Stimme spürte er den Wortbedeutungen bis ins Einzelne nach, ohne dabei Maß zu verlieren. Und die Tenor-Arien wurden durch seine Gestaltung zu den Höhepunkten dieses Konzertes.
Ihm zur Seite stimmschön der junge Bassist Josua Bernbeck als Jesus und Sebastian Noack ausdrucksstark mit den dunklen Charakteren dieses Oratoriums: Judas, Hoher Priester, Petrus und Pilatus. In den Arien konnte Noack dann seinen charaktervollen Bass entfalten. In die empfindsame Rolle der liebenden Seele brachte Siri Karoline Thonhill mit schlank geführtem Sopran ihre reichen Erfahrungen mit Bachs Musik ein.
Für Chorsängerinnen und -sänger ist die Beschäftigung mit der Matthäuspassion eine bedeutende und vielschichtige Aufgabe: ausgedehnte Chöre zum Eingang und Beschluss, Choräle und dramatische Chöre als aufgehetztes Volk, brutale Soldaten oder auch fundamentalistisch harte Priester.
Die groß besetzte Michaeliskantorei sang mit Konzentration und einem besonders in der Vierstim migkeit strahlenden Chorklang. Auch die doppelchörigen beziehungsweise geteilten Chöre wurden stimmschön gesungen, wobei hier und da etwas mehr Stimmkraft gut gewesen wäre.
Wunderbar klingend dann die ausgedehnte Begräbnis-Zeremonie, mit der das Werk nach drei Stunden in würdiger Erhabenheit ausklang. Langes ergriffenes Schweigen, bis ein voreiliger Klatscher die Stille nicht mehr aushielt. Schade. Dann aber viel Beifall für dieses wichtige kirchenmusikalische Ereignis.