Hauptorgel in St. Michaelis

Die großen Dome und Basiliken der mitteldeutschen Kulturlandschaft von Hildesheim - Braunschweig - Magdeburg - Halberstadt – Quedlinburg hatten seit dem Mittelalter ihre eigene Musikkultur und damit ihren ganz speziellen Orgeltyp, der sich ganz wesentlich von der norddeutschen Orgel unterscheidet. Die prächtigen Orgeln im Norden hatten mehr die Aufgabe, die großen Räume als "Großinstrumente" zu beschallen. Die Pfeifen der Principale und Flöten sind starkwandig, aus Blei und von enormer Tragweite; ihre Mixturen vielchörig und von entsprechender Schärfe, die Zungen dunkel und rund. Ganz anders die mitteldeutschen Orgeln. Sie hatten mit Chor und Orchester die langen lutherischen Gottesdienste musikalisch konzertant mit auszugestalten. Neben der reinen Orgelmusik galt es die Kantaten zu begleiten und für die kunstvoll vorgetragenen Choralvorspiele die nötigen Klangfarben bereitzustellen. Ihre klanglichen Stärken lagen deshalb neben den farbenreichen Plena, besonders im Delikaten, im Piano und Mezzofortebereich. Ihr klangliches Spektrum war groß. J. S. Bach wünschte sich deshalb eine "recht große und recht schöne Orgel zu seinem ständigen Gebrauch". Vor allem sollten sie Gravität haben. Für den Stilwandel des 19. Jahrhunderts zu vielschichtigen, orchestralen Klängen, dem Sinnbild der deutschen Orgelromantik waren diese farbenreichen, musikalisch reizvollen Instrumente Ausgangspunkt zu neuen Hörerlebnissen. Ihre Mischfähigkeit gerade im acht Fuß Bereich ist unübertroffen. Komponisten der ersten Garnitur, wie Mendelssohn, Ritter, Liszt und Reubke wandten sich diesen Instrumenten zu. Neue Männer, wie Friedrich Ladegast, Schulze und Schubart waren getrieben als Erfinder neuer Klangfarben, sie waren Klangkünstler der romantischen Epoche.

Die Woehl-Orgel in St. Michaelis Hildesheim gehört zu den herausragenden Instrumenten Norddeutschlands. Lange hat es gedauert, bis die Orgel – so wie sie heute dasteht – in St. Michaelis „ihren“ räumlichen und klanglichen Platz gefunden hat. Einerseits sollte das Instrument die feinen, delikaten, farbigen Klänge der mitteldeutschen Orgel haben, andererseits aber auch jene klangliche Monumentalität für die großen Werke Bachs und die großartige, sich bis ins grenzenlose steigernde Klangfülle der symphonischen Orgeln haben. Beides ist in diesem Instrument möglich, durch konsequentes Durchgestalten instrumentenbaulich notwendiger Disziplinen, aber auch durch Inanspruchnahme aller notwendigen künstlerischen Freiräume. Ohne sie als Universalorgel zu bezeichnen, lässt sich auf ihr die große Bandbreite der Orgelmusik von der Gotik bis in die Gegenwart spielen. Auch ihre äußere Form und Aufstellung ist neu, ohne Anlehnung an Vorbilder von Orgeln früherer Jahrhunderte, oder die Anbiederung an die Architektur des Raumes, der eines der bedeutendsten Kirchenräume nördlich der Alpen ist. Das Instrument steht nicht in der Mittelachse, die Orgel ist auf die Seite getreten, lässt die Architektur wirken, ohne sich zu verstecken und möchte in ihrer Weise in Zwiesprache kommen mit den Engelgestalten gegenüber an der Chorschranke und dem Hörendem.